Felsberg 07.-08.08.2014

Unbegleitete Minderjährige standen im Mittelpunkt eines interdisziplinären Symposiums des Felsberger Institutes, das am 7. und 8. August  2014 in Felsberg stattfand. Die Veranstaltung brachte Fachkräfte aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Praxisbereichen zusammen – aus der sozialarbeiterischen, pädagogischen und psychotherapeutischen Flüchtlingsbetreuung ebenso wie aus der wissenschaftlichen Psychologie, Politologie, Ethnologie und Soziologie. Zu Gast waren auch Vertreterinnen der Stadt Kassel und des Hessischen Sozialministeriums. Die breite Zusammensetzung ermöglichte den Dialog und weiterführenden fachlichen Austausch über den unmittelbaren beruflichen Alltag wie über die Grenzen der Disziplinen als auch verschiedener Bundesländer hinweg.

 

Migrationsbezogene Bildungs- und Integrationsforschung sowie praktische Bildungsarbeit mit Flüchtlingen und Migrant_innen bilden ein zentrales Profilfeld des Felsberger Institutes. Mit Unterstützung des Europäischen Flüchtlingsfonds (EFF) und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) führt das Felsberger Institut ein umfassendes Projekt zur „Sprach- und Lernförderung Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtlinge (UMF) zur Integration in das deutsche (Aus-) Bildungssystem“ durch und arbeitet insbesondere zur mehrdimensionalen (sozialpädagogischen, psychosozialen und therapeutischen) Fallbetreuung Unbegleiteter Minderjähriger sowie zum Zusammenhang von psychosozialer und therapeutischer Betreuung und Sprachmittlung.

Zum Thema:

Sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Migrant_innen auch weitgehend unsichtbar, so sind sie doch in wachsender Zahl in Deutschland und in der Europäischen Union präsent. Wenig bestritten ist, dass sie eine in besonderem Maße schutzwürdige Gruppe bilden, ein allgemein geteiltes kohärentes und integriertes Konzept zu Schutz, Betreuung und Unterstützung unbegleiteter Minderjähriger fehlt jedoch weitgehend. Dies liegt nicht zuletzt an unterschiedlichen und unterschiedlich ausgelegten Rechtsrahmen (UN, EU, BRD) und Zuständigkeiten (etwa der deutschen Bundesländer), an mangelndem politischen Willen, weithin ungesicherter Betreuungsfinanzierung und eingeschränkter Kenntnis sowohl der Herkunftskontexte und Migrationserfahrungen als auch der aktuellen Nöte und Lebenssituationen in Deutschland.

Bei der Aufnahme Minderjähriger steht Hessen derzeit beispielsweise an zweiter Stelle im Ländervergleich (889 von 5548 im Jahr 2013[1]), doch wirken sich unterschiedliche Zuständigkeiten problematisch aus: Die Inobhutnahme wird vom hessischen Sozialministerium geregelt, für den Verlauf des Clearingverfahrens und für die Altersfestsetzung sind die Jugendämter zuständig. In der Regel werden Amtsvormünder eingesetzt und unbegleitete Minderjährige zur Unterbringung nach festgelegtem Quotensystem auf die unterschiedlichen Landkreise verteilt.

Politische Integrationsversuche werden jedoch von bekannten Problemen begleitet:

 

·         Traumatisierung in Herkunftsländern und Flucht-/Migrationsverläufen; solche Traumata können aufgrund des unsicheren Aufenthaltsstatus weiter verstärkt werden.

·         Jugendspezifische Probleme der Identitätsfindung

·         Unübersichtliche Asylverfahren mit unbestimmten Zeitrahmen

·         Unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern

·         Sprachliche sowie kulturelle Schwierigkeiten

·         Die Sprachkurse werden oft nicht nach Bedarf gefördert.

·         Zu schnelle Eingliederung in Schulen

·         Ausschluss aus Regelschulen wegen Alterseinschränkungen durch Schulpflicht und Schulrecht

 

Folgende Leitfragen rahmten die Tagung:

1.       Welche Aufgaben fallen in die Verantwortung des Aufnahmelandes, in diesem Fall der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bundesländer?

2.       Wie kann die Integration von Jugendlichen politisch ermöglicht und institutionell unterstützt werden?

3.       Wie kann die diffuse Kompetenzlage der unterschiedlichen Verwaltungsebenen vereinfacht werden?

4.       Auf welche Weise erschwert das derzeitige System die Integration der UM und behindert ihre Ausbildung zu vollwertigen und produktiven Gesellschaftsmitgliedern?

 

Tagungsnotizen:

Als Direktor des Felsberger Institutes eröffnete Hartmut Quehl das zweitägige Symposium und informierte einleitend zu grundsätzlichem Forschungsinteresse und UMF-Projekt des Institutes.

Im Panel „Professionalisierte Flüchtlingshilfe – Berichte aus der Praxis“ berichteten die Psychotherapeutin Michaela Müller und der Sozialarbeiter Nicolas Grießmeier gemeinsam und anhand mehrerer Beispiele aus dem Berufsalltag von den Schwierigkeiten, beteiligte Behörden in München zu Schutz und Therapie junger suizidgefährdeter Flüchtlinge zu bewegen. Selbstkritisch reflektierten sie dabei auch das professionelle Dilemma, dass sie bei fehlendem Aufenthaltsstatus kaum zu einer Stabilisierung traumatisierter Betroffener und ihrer Lebenssituation beitragen können.

Unter dem Titel „Ankommen!“ stellte Goran Ekmescik das Projekt „FLÜB&S – Flüchtlinge in Beruf und Schule“ der Münchner Volkshochschule vor, das Unbegleitete Minderjährige auf einen Schulabschluss vorbereitet. Dabei hob er besonders die außergewöhnliche Motivation der Schüler und Schülerinnen hervor, für die der Schulalltag Privileg und Perspektive gleichermaßen sei. Goran Ekmescik vertrat auch den Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V., in dessen Geschäftsstelle er bis 2013 tätig war.

Das zweite Panel warf einen ethnologischen Blick in Herkunftskontext und in die Migration selbst.

Sebastian Prothmann, Doktorand an der Uni Frankfurt, gab Einblick in Migrationsabsichten und Erfolgsvorstellungen junger Männer im senegalesischen Dakar und interpretierte diese in einem kulturellen Kontext von Männlichkeitsideal, erfolgreicher Migrationsbiographie der Väter und religiösem Verständnis vom Leben als Prüfung. Dabei kam er zu dem Schluss, dass sich junge Menschen weder von intensivierter Migrationskontrolle, noch von europäischer Krise und verschlechterten Arbeitsbedingungen von der Migration abhalten ließen, da der Erfolg des eigenen Lebens an die Migration gebunden bleibe. Darin konnte ihm Magnus Treiber (FI) nur zustimmen, der berichtete, wie Flüchtlinge aus Eritrea in der Auseinandersetzung mit Behörden wie im eigenen migrantischen Milieu auf informelle Praktiken zurückgreifen und dabei die Zersetzung des Sozialen als bittere Erfahrung mit nach Europa nehmen.

Mirjam  Wolfstein (FI) übernahm im dritten Teil ein Grundsatzreferat zur Bildungsintegration unbegleiteter Minderjähriger in verschiedenen Rechtsrahmen und explizierte den offenkundigen Widerspruch vom Recht auf Bildung und Schulrecht dann am hessischen Bildungssystem. Sie konnte dabei auf ihre Begleitforschung zur UM-Beschulung Bezug nehmen und Mängel konkret benennen.

In der folgenden Debatte wurde dann bereits auf Reformvorhaben verwiesen, die auf die geschilderte Situation zu reagieren versuchen.

Im Panel 4, „Traumatisierung von UM“, stellte Veronika Müller das Forschungsprojekt „Allein auf der Flucht“ der Klinischen Psychologie an der Uni Konstanz vor, das in einer umfangreichen Querschnittsuntersuchung traumatische Erfahrungen und psychische Gesundheit von UMF aus zwanzig Herkunftsländern in Deutschland untersuchte. Gewalterfahrungen resultierten demnach maßgeblich in Depressivität, Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Problemverhalten und Aggression sowie psychosomatischen Beschwerden. Nahezu die Hälfte der Proband_innen litt unter deutlichen psychischen Störungen, was den Ruf nach Sensibilisierung beteiligter Professionen und besserem Zugang zum Gesundheitswesen für Betroffene nahe legte.

Ewgeni Fink, Psychologe am Liddy- Dörr-Haus in Düsseldorf, beschrieb schließlich noch einmal im Detail das Clearingverfahren für unbegleitete Minderjährige in seiner Einrichtung. Dabei kam er ebenso auf unverzichtbare berufliche Netzwerke in der Betreuung zusprechen wie auf konzeptionelle Versuche, die unübersichtliche bürokratische Belastung für Flüchtlinge durch professionelle Begleitung und Begutachtung zu mindern.

Die abschließende Diskussion widmete sich vorrangig den Schwierigkeiten, Vernetzung und Informationsfluss auch über Verwaltungs- und Berufsgrenzen hinweg zu professionalisieren, aus der eigenen beruflichen Kompetenz heraus Einfluss auf Behörden und Politik zu nehmen sowie wissenschaftlich – ethisch wie methodologisch – dem Forschungsfeld junger Flüchtlinge und Migrant_innen gerecht zu werden. Die Forderung, professionelle Arbeit mit UM interdisziplinär wissenschaftlich zu begleiten, fand dabei letztlich allgemeine Zustimmung.

 

 



[1] http://www.b-umf.de/de/startseite/5548-umf-im-jahr-2013-in-obhut-genommen